Geschichten :

Der grüne Zweig der Schwarzeiche

Märchen und Sagen gibt es viele, gerade in Vallconnan und ganz besonders hier in Hypen. Hier, wo der mächtige Hertogenwald seinen Schatten weit auf die Auen und Felder der Umgebung wirft, gedeihen rätselhafte Geschichten zu einer Vollkommenheit, die ihresgleichen sucht.

Die Geschichten zusammenzutragen oder aufzuschreiben, wäre genau so einfach, als ob man Gabbits zählen wollte. Doch die Folgende bedeutet für viele Menschen die Hoffnung auf Morgen. Und ganz besonders für eine Person hat sich diese Sage zu handfester Wahrheit gemausert.

Tief unter den Blättern des riesigen Forstes entspringt ein Bach unter einem Stein. Ab dem Waldrand nennen die Menschen diesen Fluß Hopefull Flood oder einfach Hope. Die Quelle liegt auf einer mit hohem Riedgras und Farn bewachsenen Lichtung. Von dieser Art Lichtung gibt es unzählige im Hertogenwald und auf manchen entspringt ganz ähnlich wie hier ein Bächlein. Doch etwas besonderes hat diese eine Lichtung gegenüber anderen. Egal ob Winterkälte oder Eonars Sommersonne, ob Regen oder Frühlingsluft. Die Bäume, die den Grasplatz säumen, werden niemals mit dem lebendigen Grün der Natur erfüllt. Von der Wurzel bis hoch zur letzten Blattspitze sind die schweren und uralten Eichen schwarz wie Kohle. Schwarz sind die Knospen im Larinar, schwarz fallen die Eicheln und schwarz gleiten die Blätter im späten Eonar lautlos auf den Waldboden. Schwarz ist der Stamm, das Geäst, ja selbst das Efeu, welches sich an manchen Stellen emporrankt, ist schwarz wie die Nacht. Doch keinesfalls tot sind die Baumriesen, denn jedes Frühjahr sprießen von neuem die dunklen Blüten.

Einmal jedoch in jeder Generation, einmal etwa alle zwei Dekaden sprießt an einem der zwei Dutzend Schwarzeichen ein grüner Zweig, wie uns die Sage erzählt. So leuchtend lebendig und so saftig grün trägt er im Larinar schillernd weiße Blüten und an ihm gedeihen große Früchte. Die Zeit des grünen Zweiges ist die Blütezeit der Natur und der Menschen. Das Jahr wird gut und Sorgen zerfallen zu grauen Erinnerungen. Der Götter Gunst und des Himmels Licht benetzen die Erde mit Wohlwollen.

Nur im Herbst bleibt einzig an diesem Zweig das Laub, kein Windstoß kann ein Blatt ihm entreißen. Doch über die Winterzeit verfärbt sich der Zweig und wird schwarz wie das übrige Geäst. Keiner hat je erlebt, daß der Zweig im folgenden Jahr noch grün war oder daß ein anderer Baum einen solchen sprießen ließ. Die stumme Gesellschaft der Schwarzeichen wird wieder für lange Jahre in Düsternis und Schwärze ihr rätselhaftes, aber auch wundervolles Geheimnis für sich behalten.

Allerdings muß man sich keine Sorgen machen, dieses Ereignis würde in Vergessenheit geraten. Die Hypener haben — abgesehen von ihrem Haß auf Orks — noch eine weithin bekannte Eigenschaft:  Sie lieben und pflegen ihre Geschichten und geben sie ausführlich und in aller Genauigkeit an Kinder und Kindeskinder weiter. So ist auch diese Geschichte bereits uralt und tausende Male erzählt und wieder erzählt worden. Trotzdem gibt es wohl keinen hier, der sie nicht für wahr und wahrhaftig hält. Überwältigende Ernten oder Sommer ohne Orkangriffe sind für die Menschen Beweis genug, daß der grüne Zweig an der Schwarzeiche ein gutes Omen ist. Egal, wen man fragt, gab es einen grünen Zweig, dann gab es auch ein besonderes Ereignis zum Wohle der Hypener Menschen. Umgekehrt kann jeder ein Unglück nennen aus einem Jahr ohne den wundersamen Sproß.

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Als im zweiten Larinarmond des Jahres 482 nach der ersten vallconnischen Krönung die kleine Clarissa geboren wurde, ging in Hypen auch wieder die Nachricht um, daß ein grüner Zweig an einer der Schwarzeichen sprieße.
Und weiter heißt es, daß die Amme der kleinen immer frische Kräuter und wohlriechende Blütenstauden und Binsen an die Krippe gehängt haben soll.

Doch einer dieser Äste sei nicht – wie die anderen – nach einiger Zeit vertrocknet und verdorrt. Einer, der so frisch und grün gewesen und mit Blüten von reinstem Weiß tat auf wundersame Weise nicht welken. Aus Angst vor bösem Zauber befragte man sogar Kräuterfrauen und Wahrsager. Keiner konnte das Rätsel lösen, doch alle stellten fest, daß nichts böses an dem Aste sei. Und so wollte die Amme es als Glückszeichen sehen und ihn aufbewahren und an der Krippe belassen. Und das Jahr wurde ein vortreffliches. Die Ernten sprengten die Speicher und Frieden und Wohlstand herrschten landein landaus. Und kräftig wurde das Kind und gesund, aufdaß bald alle an die Zauberwirkung glaubten. Selbst als im Herbst die Blätter fielen an den Bäumen, behielt der Ast seine Frische und sein Leben wie ein Setzling in der Erde wärmenden Schoß.

Doch dann wurde es Winter. Die Locknar-Monde kamen und das Wunder schien vorüber, ja sich sogar zum umgekehrten gewendet. Denn die Blätter und Blüten, das Gehölz und die Stengel färbten sich schwarz wie die Nacht. Nicht trocknen wollte das Astwerk, doch Dusternis schien es zu umgeben. Voller Schrecken warf die Amme den Zweig aus dem Haus und in den Brunnen, der zu dieser Jahreszeit schon dick von Eis zugefroren war. Zu allen Göttern betend, daß dem Kinde kein Unheil widerfahren solle, verbrachte sie die Nacht und noch einen Tag.
Dann aber am Abend des folgenden Tages packte sie die Neugierde und sie ging hinaus zum Brunnen, wo sie den Ast in den metertiefen Schacht hatte fallen lassen. Und siehe, er ward verschwunden, von keines Menschen Hand erreichbar oder berührt, entschwand der Zweig aus dem Brunnen und ins Nichts, von wo er einst war aufgetaucht.

Jahre später hörte die junge vallconnische Dame von der Sage vom grünen Zweig der Schwarzeiche. Und ihre alte Amme, die so lange geschwiegen aus Angst, er möge doch Unheil gebracht und verbreitet haben, erzählte von den Begebenheiten in Clarissas Kindheit. Und so erfuhr sie von dem Glückszweig an ihrer Wiege und vom Wohlstand und von der Freude, die er verbreitet hatte.

Und als es sich begab, daß die junge Dame sich verloben tat und zur Freifrau ernennet wurde, just in diesem Jahr kam die Kunde von einem neuen Zweige, welcher grün und saftens an einem der alten stolzen Schwarzeichenbäume sprießen solle. Selbst überzeugen wollte sich die Edeldame und reiste gar selbst in den tiefen Forst. Sie ließ sich den Weg weisen und gab nicht eher auf, bis sie die Lichtung gefunden, wo die Wunderbäume standen.
Und siehe da. Mit eigenen Augen sah sie das Wunder. Stark und schwer hing er da, der Zweig, mit vielen Blüten und großen Blättern. Nun glaubte sie alles von der Geschichte. Und das Jahr war eines der besten, die Ernten reich und die Menschen gesund. Ruhig waren die Grenzen meist und das Volk litt keine Not.

Und so wählte sich das Kind des Wunderzweiges, die edle Lady Clarissa den Zweig, den grünen Zweig der Schwarzeiche, zum Symbol in ihrem Wappen. Auf daß er immer Glück und Frieden bringe und seine schützenden Blätter über den Bedürftigen ausbreite.

So erzählt uns die Sage.

Wappen Clarissa of Mont RigiGeschrieben von Lars G. 02.1999 / 01.2000
„Eine Geschichte über Clarissas Wappen“
mit Zustimmung von Kristin J.


Eingetragen von LaGa am 7. November 2010


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