Geschichten :

Adler und Taube

Vallconnan Adlerwappen miniGeschrieben 1772/73 von Johann Wolfgang v. Goethe
Gefunden und empfohlen von Eva Deutschmann

Ein Adlersjüngling hob die Flügel
Nach Raub aus;
Ihn traf des Jägers Pfeil und schnitt
Der rechten Schwinge Sennkraft ab.
Er stürzt‘ hinab in einen Myrtenhain,
Frass seinen Schmerz drei Tage lang,
Und zuckt an Qual
Drei lange, lange Nächte lang;
Zuletzt heilt ihn
Allgegenwärt‘ger Balsam
Allheilender Natur.
Er schleicht aus dem Gebüsch hervor
Und reckt die Flügel   —   ach!
Die Schwingkraft weg geschnitten   —
Hebt sich mühsam kaum
Am Boden weg
Unwürd‘gem Raubbedürfnis nach,
Und ruht tieftrauernd
Auf dem niedern Fels am Bach;
Er blickt zur Eich‘ hinauf,
Hinauf zum Himmel,
Und eine Träne füllt sein hohes Aug‘.

Da kommt mutwillig durch die Myrtenäste
Dahergerauscht ein Taubenpaar,
Lässt sich herab und wandelt nickend
Über goldnen Sand am Bach,
Und ruckt einander an;
Ihr rötlich Auge buhlt umher,
Erblickt den innig trauernden.
Der Tauber schwingt neugiergesellig sich
Zum nahen Busch und blickt
Mit Selbstgefälligkeit ihn freundlich an.
„Du trauerst?“ liebelt er;
„Sei gutes Mutes, Freund!
Hast du zur ruhigen Glückseligkeit
Nicht alles hier?
Kannst du dich nicht des goldnen Zweiges freun,
Der vor des Tages Glut dich schützt?
Kannst du der Abendsonne Schein
Auf weichem Moos am Bache nicht
Die Brust entgegen heben?
Du wandelst durch der Blumen frischen Tau,
Pflückst aus dem Überfluss
Des Waldgebüsches dir
Gelegne Speise, letzest
Den leichten Durst am Silberquell   —
O Freund, das wahre Glück
Ist die Genügsamkeit,
Und die Genügsamkeit
Hat überall genug.“
„O Weise!“, sprach der Adler, und tief-ernst
Versinkt er tiefer in sich selbst,
„O Weisheit! Du redst wie eine Taube!“


Eingetragen von Eva am 22. Juli 2011


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